Zeitzer Chemiefanclub - Chronik BSG Chemie Leipzig
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Der Rest von Leipzig

 
Im Mai 2004 jährte es sich zum vierzigsten Mal, dass die BSG Chemie Leipzig für viele überraschend Oberligameister wurde. Grund genug um auf ein paar Momente einer unvergleichlichen Saison zurückzuschauen. Auch wenn die BSG schon in den fünfziger Jahren einen überraschenden Titel erringen konnte, der Grundstein für die Popularität von Chemie wurde in der Saison 1963/64 gelegt. Da nämlich trug sich eine der Geschichten zu, wie sie nur der Fußball zu bieten hat, aus deren Kraft sich zahlreiche Mythen speisen und die Fußball spielende Menschen in Götter verwandelt.

Wir schreiben also das Frühjahr 1963…
Den Leipziger Parteifunktionären war die anhaltende fußballerische Erfolglosigkeit schon länger ein Dorn im Auge, weshalb sie beschlossen, den hiesigen Fußball von Grund auf umzustrukturieren. In Probstheida sollte ab sofort die Stadtauswahl unter dem Namen SC Leipzig spielen, während der Rest, der vorher bei Rotation und dem SC Lok aktiven Spieler, unter dem Namen BSG Chemie Leipzig im "Georg-Schwarz-Sportpark" unter Trainer Alfred Kunze sich selbst überlassen wurde. Das Interesse der Fußballbegeisterten richtete sich nun, so die LVZ am Vortag des ersten Oberligaspiels, "auf den SC Leipzig, eines der Leistungszentren des Fußballs unserer Republik". Doch weit gefehlt! Die Sympathien der Fans in Leipzig sind von Anfang an klar verteilt, sie haben ein feines Gespür für die Verhältnisse im Leipziger Fußball. 20.000 Zuschauer trieben ihre Chemie am ersten Spieltag gegen Wismut Aue zum verdienten 2-0 Sieg. Der "Rest von Leipzig" zeigte auch in den folgenden Spielen, dass mehr in ihm steckte. Es reichte nicht aus, eine seelenlose Truppe aus technisch hochbegabten Spielern zusammenzustellen und dann auf deren Überlegenheit zu bauen, wie das in einigen Köpfen herumgeisterte. Die Spiele wurden - und werden - von den Mannschaften gewonnen, deren Spieler über die Fähigkeit verfügen, ihre Leidenschaft auf das Feld zu tragen und sich mit den Zuschauern zu Höchstleistungen aufzuschwingen. So auch beim zweiten Heimspiel der Saison gegen Chemie Halle, welche mit Urbanczyk einen spielerisch überragenden Akteur auf dem Platz hatte. Gegen die kämpfenden Leutzscher kamen sie aber kaum zu Chancen und wurden verdient mit 1-0 nach Hause geschickt.


Alfred Kunze arbeitet an seiner Meisterelf

Ein weiterer wichtiger Baustein im Gefüge Chemie war natürlich Trainer Alfred Kunze. Die Mannschaft wirkte in fast jedem Spiel optimal eingestellt, seinem integrativen Talent ist auch der starke Zusammenhalt der Mannschaft in dieser Zeit zuzuschreiben. Der Trainer war es auch, der mit einem kleinen Trick die Mannschaft zusammenstellte. Als die Spieler für die beiden Leipziger Vereine ausgewählt wurden, war Kunze einer der bewertenden Trainer. Das Gerücht hält sich hartnäckig, dass Kunze schon vorher von seinem baldigen Engagement in Leipzig-Leutzsch gewusst haben soll und einige Spieler, die er unbedingt in der Mannschaft haben wollte, absichtlich schlecht benotete um sie als zu schwach für den SC Leipzig erscheinen zu lassen. Ob wahr oder nicht, für die Stadtoberen sollte sich die Berufung Kunzes auf den Trainerposten der BSG schon bald als Eigentor herausstellen. Denn mit seinen taktischen Anweisungen auf den Gegner eingestellt, brachte die Mannschaft die Großen der Oberliga reihenweise zur Strecke.
 
Kunzes Taktik war dabei sehr einfach: Er ließ aus einer massiven Abwehr heraus stürmen (ja, stürmen!), wobei sich bei gegnerischem Ballbesitz zwei oder drei der Angreifer bis an den eigenen Strafraum zurückzogen und so dem Gegner das Mittelfeld überließen. Kam aber Chemie an den Ball, ging es meistens sehr schnell. Überfallartig schwärmten die Spieler Richtung Tor des Gegners und suchten dort den Abschluss. Erforderlich für ein solches Spiel ist natürlich die Laufbereitschaft! Und Chemie besaß mit Behla, Bauchspieß oder Richter Spieler, die, wie das Sportecho meinte, über "Pferde - Lungen" verfügten und so des Trainers Konzept sehr gut umsetzen konnten. Aber Kunze war auch listig! Beim ersten Ortsderby, zu dem 35.000 Zuschauer den Weg ins Zentralstadion fanden, ließ er mit Außenstürmern spielen. Dadurch kam Chemie zu einer Vielzahl an Chancen, außerdem zwang es die Abwehr der Probstheidaer, defensiver zu bleiben als gewöhnlich. Der "Rest von Leipzig" triumphierte über die "Stadtauswahl" mit 3-0 und das völlig verdient!
 
Eine kleine Sensation, die den Leutzscher Spielern endgültig das Vertrauen in die eigenen Stärken gab. Die Grün-Weißen Fans waren dankbar und feierten die Mannschaft und den auf den Schultern einiger Spieler sitzenden Trainer noch Minuten nach Abpfiff. Was die Parteibonzen nach dem Spiel machten, ist leider nicht überliefert….




Die DDR-Presse jedoch, ob Fernsehen, LVZ oder FuWo, blickte misstrauisch nach Leutzsch. Sicherlich war es selbst für eingefleischte Chemiker kaum zu verstehen, was dort vor sich ging, aber in den Artikeln und Reportagen schlug dieses Unverständnis oft in kaum verhohlene Abneigung um. Die kämpferische Spielweise der BSG fand ihren Niederschlag im Vorwurf, die Spieler, besonders Scherbarth, würden ihre Gegner häufig mit unfairen Mitteln attackieren. Hielt sich die Agitation gegen die Spielweise noch im Rahmen des Ertragbaren, so schlug den Chemie-Fans ein anderer Ton entgegen. Da es bis dahin noch kaum Erfahrungen mit Auswärtsfahrern gab und viele Leutzscher ihre Mannschaft nun auch auswärts unterstützten, wurde dieses Phänomen zum Aufhänger für eine Schmutzkampagne. Unverblümte Meinungsmache gegen diese "Subjekte", die Woche für Woche mit ihren Hupen und Fanfaren für eine untolerierbare Lärmkulisse sorgten, nach einem Spiel mit einigen fragwürdigen Schiedsrichterentscheidungen diesen schon mal attackierten und sich Handgemenge mit den Ordnern lieferten war die Folge. Allerdings muss man den Reportern zu gute halten, dass sie sich insgeheim über die Hartnäckigkeit der BSG freuten, jedoch offenbar die Anweisung bekamen, der Öffentlichkeit diese Sichtweise zu präsentieren. Trotz dieser medialen Parteinahme konnte aber niemand verhindern, dass die Zuschauer weiterhin in Scharen nach Leutzsch strömten. Auch in der Gunst der Leipziger schnitten die Leutzscher zum Ärger der Parteigrößen weiterhin überdurchschnittlich ab.

Gegen Ende der Saison hatte die Mannschaft dann aber doch Probleme, vor allem Auswärts sah man ihr an, wie kräfteraubend die Saison gewesen war. Chemie spielte keinen guten Fußball. Die Niederlage in Jena, das 3-3 im Spitzenspiel gegen Rostock und zwei weitere Unentschieden gegen Berlin und Karl-Marx-Stadt erhöhten den Druck, die letzten Spiele gewinnen zu müssen. Im vorletzten Auswärtsspiel der Saison musste die BSG in Zwickau antreten. Der Andrang war riesig, 7.000 Fans begleiteten ihre Mannschaft auf die "Halde" und ließen diese beben! Zwar spielte Zwickau stark, jedoch reichte das nicht, um gegen eine entschlossen kämpfende Mannschaft zu bestehen. 3-1 lautete das Endergebnis und Chemie stand auf dem zweiten Platz, noch vor dem SC Leipzig, der dank einer tollen Rückrunde nun Dritter war und sich siegesgewiss gab, denn auch sie hatten noch reelle Chancen auf die Meisterschaft.

Nach dem 1-0 Heimsieg gegen Magdeburg, dem 25.000 Zuschauer im völlig überfüllten Georg-Schwarz-Sportpark beiwohnen wollten und der gleichzeitigen Heimniederlage der bisher führenden Rostocker gegen Stendal fand sich Chemie zwei Spieltage vor Schluss an der Tabellenspitze wieder. Die beiden noch ausstehenden Partien waren zu Hause gegen den ASK Vorwärts Berlin und bei Turbine Erfurt zu bestreiten. Bei den Chemiefans herrschte, was Wunder, zu diesem Zeitpunkt große Euphorie. Das Ziel schien so nah. 50.000 Grün-Weiße fanden bei strömendem Regen den Weg ins Zentralstadion gegen Berlin und verwandelten diese sonst so schmucklose Schüssel in einen Hexenkessel. Doch Berlin führte zur Pause mit 0-1, spielte taktisch klug und lies Chemie in der ersten Hälfte keine Chance. Nach dem Wechsel aber kamen die Spieler wie ausgewechselt aufs Feld. Unterstützt von den Rängen wurde das Spiel durch zwei Tore von Scherbarth noch gedreht. Die Verfolger Rostock und der SCL trennten sich 1-1. Nun reichte ein Punkt am darauf folgenden Wochenende in Erfurt, um vor Rostock Meister zu werden. Der Wahlspruch lautete ab jetzt: Auf nach Erfurt! Und über 10.000 folgten! Die Autobahnen in Richtung Thüringen waren verstopft, an vielen Autos wehten Bänder in den Farben der BSG. Es herrschte Ausnahmezustand. Als das Spiel begann, stand der Sieger eigentlich schon fest. Die mitgereisten Fans verwandelten das entscheidende Spiel zu einem Heimspiel. Und die Spieler taten ihnen den Gefallen, diesen Tag als unvergessliches Ereignis in die Chroniken der BSG eingehen zu lassen. Schon nach 13 Minuten war der 2-0 Endstand hergestellt, ab da war es ein einziges rauschendes Fest. Nach dem Abpfiff stürmten tausende das Spielfeld: Der "Rest von Leipzig" war Meister! Auf den Händen wurden Spieler und Meistertrainer Alfred Kunze durchs Stadion getragen. Die Rückfahrt geriet zum einzigen Jubelcorso.

Die Legende von Leutzsch wurde in jener Spielzeit geboren. Trotz der ungünstigen Ausgangslage trotzte die Mannschaft den großen Clubs und zeigte, dass Erfolg nicht abonniert werden können.

 

"Die Meistermannschaft aus Beton in Leutzsch"

Quelle: culthoch64, Ausgabe 1/2004

Ab sofort ziert ein goldener Stern mit einer „2“ die Spielertrikots des FC Sachsen und verweist damit auf die gewonnenen DDR-Meisterschaften durch die BSG Chemie in den Jahren 1951 und 1964. Der Deutsche Fußball-Bund erkennt den FC Sachsen als legitimen Rechtsnachfolger der BSG Chemie Leipzig an und genehmigte auf Antrag des Vereins die Führung eines Stern-Emblems. Der großen Leutzscher Tradition wird damit nun auch endlich optisch Rechnung getragen. Leipzig 22.10.2008






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